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Programm OPEN AteliAIR

Prêt-à-Voler / Vergesst Robinson Crusoe!

Ina Rettkowksi
Yasmin Sibai
Jean-Charles Fousdelamer

 


 

[Pret-a Voler ist Kleidermode, die, wie die wörtliche Übersetzung aus dem Französischen besagt, „bereit zum Fliegen“ ist. Unter flugfertiger Bekleidung versteht man maßgeschneiderte Objekte, die den Träumen von neuen Ufern auf die Sprünge helfen wollen.]

 

Unfreiwilliges Stranden, Isolation, Argwohn, Erfindergeist, die nächste Welle… Begriffe, die wir ohne Weiteres mit dem Phänomen der Robinsonaden (wie Erzählungen über Schiffsbrüchige auf einsamen Südseeinseln gemeinhin genannt werden) gleichsetzen würden, die jedoch einen anderen Beigeschmack erhalten haben, durch die global einzigartige Zeit, die wir, als Kollektiv und doch so allein, gerade eben erst durchstanden haben. Das in diesem Zusammenhang hinlänglich zitierte Vergrößerungsglas deckt dabei nicht nur die Missstände vor unserer eigenen nordeuropäischen Hütte auf, sondern legt auch sehr unangenehm den Finger an die immerschwärende Wunde des Postkolonialismus, als dessen trauriges Kausalkettenende eine Vielzahl dysfunktionaler Staaten umso mehr gegen die Wellen dieser bisher ungekannten Epidemie anzusegeln haben.

Als zusätzliches gesellschaftliches Trauma setzt der gewaltsame wie sinnlose Tod eines Mannes im Mai in Minneapolis unter dem Knie eines anderen Mannes den Fokus beinah zwingend auf postkoloniale Strukturen, die wir, da in sie hineingeboren, als unumstößliche Tatsachen, Naturerscheinungen gleich, an- und hinzunehmen gewöhnt sind, womit sich der thematische Kreis ein weiteres Mal schließt.

Durch die Galerieräume des Atelierfrankfurt erstrecken sich riesige Kitesurfsegel, zu höfischen Ballkleidern umfunktioniert, die, einmal angelegt, scheinbar zum Flug befähigen: Hin zu neuen Ufern, neuen Welten, neuen Ressourcen, einem neuen, besseren Leben, Abschied von der alten Welt, Ankunft ungewiss. Doch der Schein trügt, der Fluchtgedanke bleibt Sehnsucht, bleibt mit einer Vielzahl von verzweifelten Tauen, Knoten und Gewichten am Boden verhaftet. Wie sehr das Loslassen und Festhalten, die Antipoden jeder Migrationserzählung, sich als ölschwere Seile und Taue durch die großformatigen Tuschebilder ziehen und schieben mag, so sehr bemüht das gedankliche Anlegen der Korsette, sich zu wappnen gegen die nächste, wie auch immer geartete Welle. Durch den Versuch einer Takelage hindurch bahnt sich ein Parcours, immer im robinsonsicheren Abstand zu unverhofft Entgegenkommenden auf der unbekannten, anderen Seite.

Der Ursprung aller eroberischen Segelunternehmungen zu den kleinsten Inseln und Atollen unserer Weltmeere lässt sich zurück führen auf den Erfindergeist eines englischen Uhrmachers, der ein für alle Mal das Längengradproblem zu lösen wusste, somit die kursgenaue Ansteuerung des noch so kleinen unerschlossenen Südseeparadieses möglich machte und simultan das Abhandenkommen desselbigen besiegelte, folgen doch die naturgesetzmäßigen Regeln von Paradiesen in etwa denen der Quantenmechanik: dem Schicksal Schrödingers bedauernswerter Katze vergleichbar, besteht nur noch eine fünfzigprozentige Chance auf Leben in dem Moment, da sich das menschliche Auge ihnen nähert.

Die Lösung des Längengradproblems als Fluch und Segen zugleich verortet sich hier als Wegmarkierungen entlang der segelstofflichen Träume vom Verlassen und Ankommen, begleitet den Parcours in Form von Koordinaten der ersten Kolonien Deutschlands, Großbritanniens und der Niederlande. Ein Längengrad, der genau durch diese Galerieräume des Atelierfrankfurt verläuft, wird hier als Referenz zum imperialen Nullmeridian gezeigt.

Drängende Fragen als Imperativ einer jungen Generation, die die vermeintlich unumstößliche Ordnung relativiert, werden uns dabei mittels Soundcollage um die Ohren geschleudert und weisen hinweg von Entdeckertum und Südseeparadies, hin zu aufblasbaren Gefährten auf den weniger romantisch verklärten Meeren vor unserer Haustür. Wo kommst du her? Warum bist du hier? Wie lange gedenkst du zu bleiben? Takelage und Koordinaten gereichen im Zeitalter der vollkommen erschlossenen Landkarten nicht mehr zum sicheren Instrumentarium der Selbstverortung.

 


Flug(un)fähige Kleidungsobjekte: Ina Rettkowski

Zeichnungen, Konzept und Texte: Yasmin Sibai

Sound: Jean-Charles Fousdelamer

 


 

ATELIERFRANKFURT (AF) ist Hessens größtes Kunstzentrum. Über 220 Künstler*innen und Kreative arbeiten in dem ehemaligen Lagerhaus am Frankfurter Osthafen. Ausstellungen, Konzerte, Performances, Designmärkte, Kunstsalons, Pop-Up-Stores, Barabende & Partys – im AF finden jährlich bis zu 40 Veranstaltungen statt.

 

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